Corona-Proteste: Wie konnte es soweit kommen?
Fraktionsvorsitzender Andreas Winter im Interview
Am Karsamstag strömten tausende Menschen ohne Maske und ohne Abstand durch die Stadt. Stuttgart hat bundesweit Schlagzeilen gemacht, nicht nur aufgrund der Vorfälle im Rahmen dieser Demonstration, sondern auch aufgrund der Erklärungen und der Wortwahl der neuen Stadtspitze.
Ordnungsbürgermeister Dr. Clemens Maier zeigte sich gar „erleichtert“ über den Verlauf der Demonstration. „Wir waren es nicht. Und für alle, die sich an die Corona-Verordnungen halten, in Kliniken und Praxen ihren Dienst tun, an Covid-19 erkrankt waren oder sind und den Angehörigen der Menschen, die an dieser Krankheit verstorben sind, ist das ein Schlag ins Gesicht“, sagt Andreas Winter, Fraktionsvorsitzender der GRÜNEN im Stuttgarter Rathaus, im Interview.
Herr Winter, am Samstag strömten bei einer Querdenker-Demo rund 15.000 Menschen durch die Stuttgarter Innenstadt. Hätte die Stadtverwaltung die Demonstration auf diese Art und Weise zulassen dürfen?
Ganz klar: Nein. Und deshalb fordern wir jetzt auch eine Erklärung, wie die Stadtverwaltung mit den Empfehlungen des Sozialministeriums in den Tagen vor der Demonstration umgegangen ist. Wir wollen für den nächsten Gemeinderat einen Bericht der Stadtspitze sowie der Polizei zu den Vorfällen vom vergangenen Samstag. Und besonders wichtig: Wir wollen wissen, welche Maßnahmen die Stadtspitze zukünftig ergreifen wird, damit wir in Stuttgart keine weiteren Demonstrationen dieser Art mehr zulassen müssen. Die Bilder vom Samstag sind ein Schlag ins Gesicht all derer, die sich an die Regeln halten, um sich und andere vor einer Infektion mit dem Coronavirus zu schützen. Besonders muss es die Menschen treffen, die in Kliniken und Praxen ihren Dienst tun oder an Covid-19 erkrankt waren oder sind und den Angehörigen der Menschen, die an dieser Krankheit verstorben sind.
Was hätte die Stadt anders machen können?
Das Sozialministerium hat im Vorfeld der Demo deutlich gemacht, dass ein Verbot möglich gewesen wäre. Und selbst wenn die Verwaltung diesen Weg als aussichtslos eingestuft hätte, hätte es Möglichkeiten gegeben, nicht in dieses Desaster zu rennen.
Erinnern wir uns an die Querdenker-Demo Mai 2020. Damals hat die Stadt Stuttgart zum Infektionsschutz verschiedene Auflagen erlassen. Fritz Kuhn Oberbürgermeister a.D. hat sich maßgeblich dafür eingesetzt, die Teilnehmerzahl auf 5.000 zu beschränken und die Versammlung auf dem Cannstatter Wasen festzusetzen. Der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim lehnte damals eine vom Veranstalter dagegen gerichtete Beschwerde ab und erklärte, dass diese Beschränkung kein rechtswidriger Eingriff in die Versammlungsfreiheit sei, denn der Staat hat bei gravierenden Gefahren für Leib und Leben eine Schutzpflicht. Dieses Argument hätte auch am Karsamstag bestand gehabt und wäre das Mindeste gewesen, um diese Massenveranstaltung einigermaßen in den Griff zu bekommen.
OB Dr. Nopper hat öffentlich gesagt, dass es keinen Ansatz für ein Verbot der Demo gegebenen hätte, auch, weil sich die Veranstalter bei früheren Kundgebungen im Wesentlichen an die Beschränkungen gehalten hätten?
Das sehe ich anders. Schon bei der ersten Querdenker-Demonstration hatte es zahlreiche Verstöße gegen die geltenden Coronaregeln gegeben, zum Beispiel beim Thema Abstandsregeln. Das war ja schon im Mai 2020 Grund genug für die damalige Stadtspitze, auf Basis der Lageeinschätzung von Polizei und Gesundheitsamt, die Teilnehmerzahl zu beschränken.
OB Dr. Nopper verweist darauf, dass der neue Ordnungsbürgermeister in Abstimmung mit der Polizei die Konzeption für die Begleitung der Demonstration entwickelt habe…
Selbst wenn das so ist, so ist es doch die Stadtverwaltung, die die Entscheidung trifft, ob und wie eine Versammlung in Pandemiezeiten von statten geht. Wenn ich dann im Nachhinein höre, dass die Menschenmenge am Samstag zu groß war, als dass die Polizist*innen vor Ort die Coronaregeln hätten durchsetzen können, da ansonsten das Infektionsrisiko noch erhöht worden wäre, stelle ich mir schon die Frage, was das für ein Konzept gewesen sein soll. Ich kann deshalb sehr gut nachvollziehen, warum die Gewerkschaft der Polizei, der Verwaltung vorwirft, der Polizei „den Mist vor die Füße“ geworfen zu haben.
Sie bemängeln nicht nur ein unausgegorenes Konzept, um die Demonstration unter Kontrolle zu behalten, sondern auch die Kommunikation der Stadtspitze zu den Vorkommnissen rund um die Versammlung. Warum?
Weil ich bis heute kein Wort des Bedauerns oder einer klaren Bewertung von Seite der Stadtspitze gehört habe, was da abgelaufen ist. Der Ordnungsbürgermeister hat stattdessen seine Erleichterung formuliert, dass die Bilder aus Stuttgart zwar nicht schön, aber auch kein Vergleich zu den jüngsten Ereignissen in Brüssel, Kassel oder Dresden seien. Die Teilnehmer*innen der Kundgebungen hätten sich auf den dafür definierten Plätzen und abgesteckten Routen getummelt. Somit sei verhindert worden, dass Tausende unkontrolliert durch die Stadt strömten.
Was ist das für eine Kommunikation und mit welcher Haltung? Die Verstöße wären ja alle friedlich verlaufen. Um es klar zu sagen: Diese Verstöße während einer Pandemie sind nicht nur ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die sich an die Regeln halten und besonders derer, die in Kliniken seit einem Jahr an Schwerstkranken ihren Dienst tun oder derer, die Angehörige verloren haben.
Sehen Sie hier auch ein Versäumnis der neuen Stadtspitze?
Ja, das, was am Samstag in Stuttgart abging, ist nicht zu tolerieren. Vergangenen Sonntag habe ich bereits gefragt, wo unser Oberbürgermeister ist und wann er die Pandemiebekämpfung zur Chefsache macht. Denn das Ganze reiht sich leider darin ein, dass Stuttgart sich letzte Woche ein paar Tage mehr Zeit ließ, um auf die Überschreitung der 7-Tage Inzidenz von 100 zu reagieren. Vom Oberbürgermeister haben wir zu dieser Entwicklung erst etwas gehört, als wir ihn aufgefordert haben, eine Videokonferenz zu diesen Themen anzuberaumen.
In diesem Gespräch haben wir dann auch deutlich gemacht, dass wir erwarten, dass zumindest die beratenden Ausschüsse in der kommenden Woche als Videokonferenzen abgehalten werden. Wir halten es für in keiner Weise förderlich, den Menschen in der Stadt weitere notwendige Einschränkungen abzuverlangen und selbst weiter in Präsenz mit zahlreichen Gästen zu tagen, obwohl die Alternative einer Videokonferenz bereits bestens erprobt ist und sich bewährt hat. Hier muss die Stadt mit dem Beispiel Schule machen, dass in der laufenden Arbeit alle zur Verfügung stehenden Mittel genutzt werden, um Kontakte zu reduzieren. Denn darum wird es in den nächsten Wochen in erster Linie gehen.
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