We are living in a strange World!

2. April 201912 Minuten Lesezeit

Rede von Anna Deparnay-Grunenberg auf der Generaldebatte zum Klimaschutz am Donnerstag, 11. April 2019

>> Flugblatt zur Rede als pdf

Ihr erinnert Euch bestimmt an die Worte von Greta Thunberg bei der Verleihung der goldenen Kamera?
Gestern Abend kam ich spät nach Hause, ich wollte mich an den Computer setzen, um meine heutige Rede zu schreiben: Da ploppten zwei dieser nervigen Popup-Nachrichten auf dem Laptop auf.
Die erste Nachricht war ganz unscheinbar weiß auf schwarz: Utopia News: EU warnt vor Ende der Menschheit bis 2030 – AHA! Ok, weg klicken, sich nicht ablenken lassen!
Die zweite war größer und bunt: MINUS 35% auf Alles! – und klein geschrieben – bei einem Einkauf ab 200 Euro.
„Alles klar!“, hab‘ ich gedacht, die Menschheit stirbt aus – und ich sollte mir dieses sensationelle Angebot keinesfalls entgehen lassen! Logisch irgendwie und leider auch so zynisch.
Und natürlich wisst ihr, meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde und liebe junge Menschen von Fridays For Future, natürlich wisst ihr alle, dass diese beiden „Meldungen“ letztlich etwas sehr Dramatisches und Perverses zugleich an den Tag legen:
Unsere Lebensgrundlage, dieser Planet, ist hochgradig durch unser Tun gefährdet – und wir? Wir rennen weiter, kaufen weiter, wir wollen alles und mehr und billiger und saugen und saugen das Mark unserer Natur aus. Was ist los?

Als ich 20 Jahre alt wurde, lag die C02 Konzentration der Atmosphäre bereits bei über 360 parts per million (ppm) und die Klimawissenschaftler schlugen bereits Alarm: das Klima wird sich erhitzen mit ungeahnten Folgen für Fauna, Flora und die menschliche Kultur.
Heute stehe ich vor euch und wir messen 400ppm in der Luft. Und der Klimawandel ist eingetreten. Wetterextreme, die Eiskappen an den Polen schmelzen, Hitzerekorde in Serie, Veränderung von Vegetation, Austrocknen von Flüssen: Natürlich wird es dazu kommen, dass Wirtschaft, Landwirtschaft und Migration sich drastisch verändern werden. So oder so. Es wird kommen. Die Frage ist nur wie?
Aber wir haben noch 11 Jahre. 11 Jahre, um all unsere Energie zu bündeln, um die richtigen Schritte zu machen, um vielleicht unter dem 2-Grad-Ziel zu bleiben. Eigentlich hat uns die Wissenschaft sogar angewiesen, unbedingt unter einer Erhöhung um 1,5 Grad zu bleiben, weil wir es ansonsten mit chaotischen und nicht vorhersehbaren Turbulenzen des gesamten planetarischen Ökosystems zu tun haben werden.
Was nun? Sind wir gescheitert. Ist alles zu spät?
Ich weiß es nicht. Aber es ist schlicht nicht relevant. Relevant ist nur noch, was wir ab jetzt tun können, um unseren Lebensstil und unsere Wirtschaft zu dekarbonisieren.
Auf jeder Ebene. In der persönlichen Lebensführung, in der Stadtpolitik, im Land, im Bund, in den Unternehmen, in Europa und international in unseren globalisierten Handelsbeziehungen.
„Die Bude brennt“. Und trotzdem brauchen wir keine Hektik, sondern zielgerichtetes, mutiges und stetiges Vorangehen. Die einzige gute Nachricht, die ich habe: Im Prinzip wissen wir, wie es geht und wir haben bereits begonnen.
Die Energiewende: Raus aus Kohle und Gas bis 2030 – das muss gehen. Rein in die Erneuerbaren. Her mit Effizienz und Sparsamkeit!
Die Verkehrswende: Bis 2030. Eine Verdopplung des Öffentlichen Verkehrs, ein Drittel aller Fahrzeuge emissionsfrei, eine Halbierung der Fahrzeuge in der Stadt, 40 Prozent der Strecken zu Fuß oder mit dem Rad. Wenn wir es ernst meinen mit den Pariser Klimaschutzzielen.
Agrarwende: Biologischer Anbau, eine kleinteiligere Landwirtschaft muss gefördert werden, weniger tierische Produkte essen, weniger wegwerfen, weniger verpacken.
Konsum-, Produktions- und Rohstoffwende: Hin zu einer 100-prozentigen Kreislaufwirtschaft. Auch in der Kommune sollten nur noch Aufträge an Unternehmen vergeben werden, die sich ihrer Verantwortung gegenüber dem Klima stellen. Und das ist leider heute noch überhaupt nicht der Fall.
Ja und weniger Versiegelung von lebendigem Boden.
Schließlich CO2-Zertifikate, die einen echten Preis haben, müssen her! Da stimmen die Forderungen von Fridays For Future mit denen der Wissenschaft und der Grünen in der Richtung überein. Mit den Zertifikaten würde sich nämlich einiges sehr schnell ändern.
Nun sind wir hier im Gemeinderat.
Ich möchte Euch einige Bespiele nennen von Projekten, die wir GRÜ-NEN hier mit unseren ca. 25 Prozent der Stimmen – keine Mehrheit also, das darf man nie vergessen! – seit 10 Jahren hinbekommen haben, besser gesagt hart erkämpft haben.
Seit 20 Jahren steht in unserem Programm, dass wir den ÖPNV vereinfachen und verbilligen müssen. Erst mit den drohenden Fahrverboten haben sich hier die Mehrheiten verschoben. Und ja, Herr Körner von der SPD, Sie werden uns vermutlich gleich erzählen, dass Sie die Tarif-Reform nicht nur durchgesetzt, sondern sogar erfunden haben.
Ich weiß genau, dass wir beide tatsächlich erheblich dazu beigetragen haben – aber Sie können sich sicherlich auch daran erinnern, wie die SPD den Rosensteintunnel hier durchboxte und Sie hier in diesem Rathaus – vor ich schätze nicht mal vier Jahren – sagten: „Ich habe Benzin im Blut“. Ich gebe zu, ich bin damals fast vom Stuhl gefallen! Ich freue mich, wenn Sie wirklich dazu gelernt haben.
Seit 40 Jahren tragen wir GRÜNEN wie eine Monstranz vor uns her, dass der Radverkehr bessergestellt werden und den Autos Platz weggenommen werden muss. Erst dieses Jahr haben wir durch die fantastische Arbeit der Initiative „Radentscheid Stuttgart“ und unserem Beschluss „Lebenswerte Innenstadt“ den Durchbruch geschafft und tatsächlich uns verpflichtet, auch mal Autospuren für den Radverkehr und den öffentlichen Raum herzugeben. Ich erinnere an den mühsamen Kampf um jeden Parkplatz in den letzten Jahren. Gut, dass sich endlich was ändert in den Köpfen! Es ist höchste Eisenbahn!
Wir GRÜNEN kämpfen für die Energiewende und die Wärmewende in Stuttgart. Die Stadt hat eigene Stadtwerke gegründet, produziert 100 Prozent Ökostrom und der Energiebedarf für ihre Liegenschaften hat sich seit 1990 um 27 Prozent verringert.
Das Ziel, 2050 klimaneutral zu werden, steht fest. Die Wege dahin müssen hart erkämpft werden.
Wir GRÜNEN haben auch die städtischen Kapitalanlagen „fossilfree“ gemacht mit der ‚Divest‘-Initiative, die wir gemeinsam mit SÖS-LINKE-PluS gestartet und dann gemeinsam durchgezogen haben. Kein städtisches Geld für Kohleförderung!
Auch im Bereich Ernährung haben wir in den letzten Haushaltsberatungen die CDU überzeugt, einen Anteil von 25 Prozent Bio-Essen für unsere Schulkantinen zu beschließen. Wie ihr bestimmt wisst, ist der ökologische Anbau von Lebensmitteln eine wahre CO2-Senke, da der Boden wieder mehr Humus binden kann und dadurch CO2 bindet, statt es zu emittieren, wie es bei Versiegelungen der Fall ist.
Apropos Versiegelung: da haben wir leider letztes Jahr eine schädliche politische Trendwende in diesem Haus erleben dürfen. Wir hatten einen ordentlichen Jahresüberschuss. Wir als GRÜNE schlugen vor, im Juli 2018 einen Fond im Umfang von 55 Millionen Euro einzurichten, um uns mit schnelleren Schritten den Klimaschutzzielen in Stuttgart zu nähern.
Wir GRÜNE wollen in Stuttgart möglichst alle städtischen Gebäude klimaneutral oder sogar als Plusenergiehäuser sanieren oder herstellen – also Geld einstellen für eure Schulen, für Schwimmbäder und Sportvereine, dass die, wenn sie sanieren oder neu bauen, am meisten Energie sparen und ausreizen, was der Stand der Technik hergibt.
Mit dem Geld wollten wir eine Offensive für mehr Solaranlagen auf privaten Dächern der Stadt und für eine green-IT der Verwaltung, weil auch da viel zu viel Energie verschwendet wird.
Aber nein, eine Mehrheit der Klimamuffel im Gemeinderat hat es anders gewollt. Lieber eine sogenannte „Wohnungsbauoffensive“, die tatsächlich das plumpe Versiegeln der Grünen Wiesen, das Töten des
fruchtbaren Bodens und das Emittieren von vielen Tonnen CO2 durch den Verlust der organischen Substanz im Boden – als unserem Klimaschutzfonds zuzustimmen. Es gibt noch viel zu bewegen in den Köpfen!!!!
Ja, wir GRÜNEN kämpfen dennoch ohne Unterlass für das Klima und die Umwelt und fühlen uns von eurer neuen Umweltschutz-Bewegung getragen und auch geschoben. Ihr zeigt uns den Spiegel, das tut manchmal weh, aber das ist notwendig! Wir verneigen uns bei jedem Einzelnen von euch, die ihr für EURE ZUKUNFT EINSTEHT und KÄMPFT!
Weil wir als Gesellschaft nicht schnell genug sind mit dem ökologischen Wandel, brauchen wir Euch und eure Kreativität: Wir brauchen eine neue Wirtschaftsweise, eine neue Erfolgsmessung, neue Lebensstile, die hip aber unschädlich sind. Mit der Gemeinwohl-Ökonomie haben wir hier erste Schritte gemacht, aber die Fossilen sind immer noch unschlagbar billig.
Wir müssen vor der Haustür anfangen und bei der Gemeinderatswahl weitermachen. Geht alle zur Wahl! Wir müssen im Land, Bund und bei Unternehmen den Druck erhöhen. Wir müssen den Verpestern ihre Emissionen in Rechnung stellen. Wir müssen uns vor allem AUCH in Europa nicht wegducken, weil es ja „in USA und China schlimmer“ wäre, wie man leider so oft hört!
Europa muss Vorreiterin im Bereich Klimaschutz werden! Beteiligt Euch also auch an der Europawahl! Und wählt ökologisch!
Als Mutter von drei wunderbaren Jugendlichen bleibt mir oft die Luft im Hals stecken, wenn ich wirklich daran denke, in welch‘ verwobene, verstrickte, mancherorts so verschmutze Welt ich sie aufwachsen sehe.
Aber es ist auch schlicht unsere Welt. Die einzige die wir haben. Die so viel Schönheit in sich bergen kann.
Wir müssen also nicht verzagen, wir müssen die richtigen Entscheidungen treffen. Politik ist nicht irgendetwas, was einfach passiert. Nein, Politik ist, was wir draus machen! Hört nicht auf, euer Recht auf Zukunft laut und deutlich einzufordern. Lasst uns gemeinsam handeln.
Und gerade, wenn uns alle Kräfte manchmal zu verlassen scheinen, sollten wir uns daran erinnern: Wir sind nicht allein, wir sind nicht getrennt, nicht voneinander.